Interview Pinar Gönül – Teil 2


Was kann Putz, das ein anderes Fassadenmaterial nicht kann?

Putz ist ein Material, das sehr häufig das Volumen und die Proportionen eines Gebäudes betont. Es umhüllt den Baukörper wie eine Haut und legt das Verhältnis zwischen offenen und geschlossenen Wandanteilen, Fenstermasse und Proportionen gnadenlos offen. Putz erfordert daher eine tiefe Auseinandersetzung mit der Rezeptur und der Oberfläche in Abhängigkeit von der Anatomie des Baukörpers. Bei der verputzten Fassade stehen außerdem nicht der Baustoff, sondern die architektonischen Elemente im Vordergrund: Putz reagiert empfindsam auf technisch nicht saubere Details. Es braucht zum Beispiel immer ein Gesims, damit das Wasser abtropfen kann.

Beim Putz besteht außerdem ein sehr enger Zusammenhang zwischen den Eigenschaften des Materials, der Auftragstechnik und dem Werkzeug, welches zum Auftragen angewendet wird: Denn in der stofflichen Zusammensetzung des Putzes ist die Art des Auftrages und damit die Verputztechnik schon eingeschrieben. Die Entscheidung für die Anwendung eines Putzes und seiner materialspezifischen Auftragstechnik ist somit auch immer eine gestalterische Entscheidung. Diese bestimmt letztendlich das Erscheinungsbild einer Fassade.

Putz kann für sich selbst sprechen, an großen Flächen, wo die Oberfläche in den feinen Licht- und Schattenspielen des Tages zur Geltung kommt.

Der Kratzputz hat eine enorme Tiefe. Durch das Abkratzen der oberen Sinterschicht kommen die Zuschlagsstoffe und Zuschläge zum Vorschein. Es gibt keine annähernd ähnliche Putzstruktur, die einmal das Bild von einem harten Stein und einmal das Bild einer weichen, ja fast schon textilen Oberfläche entstehen lässt. Es ist schön mit der Hand darüber zu fahren. Es ist eine bewegte und lebendige Putzoberfläche.

Der Wormserputz zeichnet sich aus der Nähe betrachtet durch eine grobkörnige, „knäckebrotartige“ Oberfläche aus, die aus der Distanz jedoch ein homogenes Erscheinungsbild erzeugt.

Und schließlich gibt es einen Kalkputz, der lediglich aus dem Bindemittel Luftkalk besteht und keinen Zuschlagsstoff wie Sand enthält. Stattdessen besteht er nur aus Hanffasern, welche die Bewehrung des Deckputzes übernehmen. Die Hanffasern sind optisch auf der Oberfläche präsent. Die anfänglich durch die Gerbstoffe in den Pflanzenfasern leicht ins Ocker gehende Farbigkeit wird im Laufe der Zeit durch das Sonnenlicht gebleicht. Der Putz zeigt einen natürlichen Alterungsprozess, da die Hanffasern an der Oberfläche durch einen natürlichen Verwitterungsprozess abgebaut werden. Die Struktur aber wird auch dann noch zu sehen sein, denn die Fasern haben für immer ihren Abdruck hinterlassen. Die stetige Veränderung der Oberfläche ist eine wesentliche Eigenschaft von Putz.

Welches andere Fassadenmaterial verfügt über eine ähnlich poetische Kraft?

Interview Pinar Gönül – Teil 1

Was macht eine gute Putzfassade aus?

Verputze haben die Funktion, das Mauerwerk vor Durchfeuchtung zu schützen und damit auch den vorzeitigen Abbau des Mauergefüges zu verhindern. Über diese Schutzfunktion hinaus aber nutzten die Baumeister den Putz stets auch als Gestaltungsmittel. Durch die zur Verfügung stehenden lokalen Sande und Kalke, die Auftragstechnik und die Oberflächenbehandlung verliehen sie ihrem Bauwerk so ein individuelles Gepräge. Beide Eigenschaftsgruppen sind in unmittelbarer Abhängigkeit zusammen entwickelt worden. Das eine wäre ohne das andere nicht entstanden. Gebaute Architektur und deren visueller Ausdruck fanden zu einer Einheit zusammen und prägten insgesamt das Erscheinungsbild ganzer Regionen.

Im Zuge der Industrialisierung und der Erfindung der verputzten Außenwärmedämmung wurden Baustoffe und die Kombination von Materialien zu Putzmörteln technologisch optimiert und im wahrsten Sinne des Wortes „ausgedünnt“. Die zeitgenössische Anwendung und Standardisierung wird der Vielfalt des Materials, der Kombination seiner Bestandteile sowie der unendlichen Variabilität von Auftragstechnik und Erscheinung beziehungsweise Gestaltung der Oberfläche dabei nicht mehr gerecht. Bei einer guten Putzfassade gilt es, die große gestalterische und technische Vielfalt im Material neu zu entdecken und dem Bauwerk wieder einen individuellen Ausdruck zu verleihen.

Wie viel poetische Kraft steckt in einer guten Putzfassade?

Putz ist eines der ältesten Baustoffe. Sand, Kalk und Wasser finden sich an fast jedem Ort der Welt. Doch jeder Sand ist anders – grobkörnig, feinkörnig, Rundkorn, Spitzkorn, dunkel, hell, dicht oder fein – und jedes Kalkvorkommen hat seine besonderen Eigenschaften.

Stellt Euch eine Putzoberfläche vor, die mit Marmormehl veredelt oder dem Muschelkalk beigefügt wurde und die nun einen wunderbar schimmernden Glanz erzeugt.

Eine Putzoberfläche gibt ihre Rezeptur nicht preis. Man kann vielleicht die Korngrößen bestimmen und die eingesetzten Farbpigmente herausfinden, doch der Aufbau und die Rezeptur bleiben für immer verborgen.

Und nun stellt  Euch vor, Ihr steht vor einem verputzen Bauwerk, wo sich die Spuren des Werkszeugs, die der Handwerker mit der Hand geführt hat, für immer erhalten haben und Ihr erfahrt den Glanz und den Schimmer an der Putzoberfläche und erahnt vielleicht in diesem Moment, woher all diese edlen Materialien kommen könnten: Das kann man als „Poesie im Material“ betrachten. Bei mir stachelt es die Experimentierlust an.